Patientengeschichten
Das Leben ins Zentrum stellen – trotz Leukämie
Domenique erhielt mit 19 Jahren die Diagnose akute lymphatische Leukämie. Nach Chemotherapie und einer Blutstammzelltransplantation geht es ihr heute wieder gut. Eine Geschichte über Verzweiflung, Mut und die Kraft, sich voll dem Leben hinzugeben.
Domenique fühlte sich kerngesund, als sie sich im November 2017 während einer Mittagspause spontan zu einer Blutuntersuchung entschloss. Als angehende MPA (medizinische Praxisassistentin) war dies nichts Aussergewöhnliches: ein kleiner Fingerpicks, etwas Blut in eine Ampulle und rein in die Maschine. Das Resultat war nicht normal: «Statt zwischen 4000 und 10'000 weissen Blutkörperchen hatte ich deren 32'000 im Blut», erzählt uns Domenique ihn ihrem Zuhause in Ulisbach bei Wattwil im Toggenburg. «Ich dachte zuerst, das Gerät spinnt.» Doch so war es nicht. Für Domenique war klar: «Das ist etwas Deftiges.».
«Ich war immer gesund»
Akute lymphatische Leukämie. So lautete die Diagnose, die sie zwei Tage später im Kantonsspital St. Gallen erhielt. «Ich fühlte mich in diesem Moment komplett leer», schildert die junge Frau. «Ich war immer gesund und bin ein sehr lebensfroher Mensch, war immer unterwegs. Es war eine brutale Diagnose.»
Auch für ihre Familie brach eine Welt zusammen. Die Mutter, ebenfalls MPA, hatte eine leise Ahnung, was als Weg auf sie alle zukommen könnte. Vater, Zwillingsschwester, Bruder, Grosseltern, Arbeitgeber, Freundinnen und Kollegen: sie alle waren fassungslos. Dann begann eine Zeit, die jetzt Vergangenheit ist. Eine Zeit mit vier Chemotherapiezyklen, einer Bestrahlung und einer Blutstammzelltransplantation. Eine Zeit, in der nur etwas im Zentrum stand: Das Leben.
Hinaus in die Welt – im Rollstuhl
«Wir waren schon immer eine extrem zusammengeschweisste Familie, meine Mutter und ich haben ein sehr enges Verhältnis». Das ist sicht- und spürbar: da fliegen Worte hin und her, eine beginnt den Satz, die andere beendet ihn, manchmal reicht ein Blick und beide fangen an zu lachen. «Ohne meine Mutter hätte ich dies alles nicht durchgestanden», sagt Domenique. Und ihre Mutter Barbara fügt hinzu: «Wir haben uns nichts erspart und alles zugemutet, auch die Verzweiflung, auch das Nicht-mehr-weiter-wissen.»
Und dennoch gab es im entscheidenden Moment immer einen Kick, eine Kraft, die plötzlich wieder da war, ein Schub. Kaum ging es Domenique etwas besser, packte die Mutter sie: «Komm, wir schminken uns, ziehen uns schön an, gehen aus.» Mit Erlaubnis der Ärzte wurde dann auch einmal ein Glas Prosecco getrunken. Oder als ihr während einer Chemo die Beine versagten: die Mutter organisierte einen Rollstuhl, so ging es ins Dorf, hinaus in die Welt.
Wichtige Äusserlichkeiten
Das erste, was Domenique vor den langen Behandlungen wissen wollte: Werden die Haare ausgehen? «Meine Haare waren mir immer extrem wichtig, sie waren mir heilig.» Nun wusste sie, sie würden ausfallen. «Die Vorstellung, die Haare büschelweise zu verlieren, war der Horror.» Auch hier half die Mutter. Zuerst gab es einen Kurzhaarschnitt, einige Zeit später schlossen sich die beiden ins Bad ein und die Mutter rasierte der Tochter den Kopf. Hier erinnert sich die Mutter: «Wie sie alles gemeistert hat! So mutig, so zupackend.»
Auch die grösste Herausforderung – die Blutstammzelltransplantation mit vierwöchigem Aufenthalt im Isolierzimmer – überstand Domenique mit Hilfe ihrer Familie und Freunde. «Ich feierte in dieser Zeit meinen 20. Geburtstag. Die Vorstellung, ihn eingesperrt und alleine zu verbringen, war schrecklich.» Und auch hier hatte die Mutter die zündende Idee, um ihre Tochter mitten im Leben feiern zu lassen. Sie organisierte 300 Videosequenzen von ganz vielen Menschen, schnitt sie zu einem Film zusammen und brachte diesen ins Spital. «Es war das schönste Geburtstagsgeschenk meines Lebens», sagt die Tochter.
Der Zukunft blickt Domenique freudig entgegen: ihre Haare wachsen wieder, sie hat einen Freund und im Sommer schliesst sie mit einjähriger «Verspätung» die Lehre zu ihrem Traumberuf ab. Auch ihr Blut wird sie in Mittagspausen wieder routinemässig kontrollieren.