Betroffene erzählen
Vom Marathon an den Infusionsbeutel und wieder zurück
Dies ist die beeindruckende Geschichte von Berufsfeuerwehrmann Raphael Marchon. Sie zeigt, dass Blutkrebs jeden treffen kann. Sie gibt aber auch Hoffnung und macht Mut. Mut, der Behandlung mit Optimismus entgegenzublicken.
Der Baselländer Raphael Marchon steht im Herbst 2021 mitten im Leben. Er ist gerade 47 Jahre alt geworden, arbeitet bei der Berufsfeuerwehr in Basel und nutzt jede freie Minute für seine grosse Leidenschaft, den Ausdauersport. Marathon, Triathlon, sogar einen Ironman hat er bereits erfolgreich absolviert. Auch seine Frau und seine beiden Buben (damals 9 und 12) sind sportlich sehr aktiv und begleiten ihn an seine Wettkämpfe. «Wir waren oft unterwegs, am Reisen, in der Natur, haben viel gemeinsam erleben dürfen. Wir hatten einfach ein gutes Leben», erinnert sich Raphael.
Im Oktober 2021 läuft er den SwissCityMarathon in Luzern – in knapp über drei Stunden. Aber schon im darauffolgenden Februar fühlt sich Raphael nicht mehr wie sonst. «Ich war nicht fit, und zwar über längere Zeit. Das kannte ich gar nicht von mir», erzählt Raphael und ergänzt: «Meine Frau dachte, ich hätte vielleicht ein Burnout. Ich selber war der Ansicht, dass ich einen Infekt verschleppt hatte oder die Nachwehen der Coronaimpfung spürte.» An eine ernsthafte Erkrankung oder gar an Krebs denkt zu diesem Zeitpunkt niemand.
Abwärtsspirale
Das erste Mal ernsthaft Sorgen macht sich Raphael Ende Februar, als er mit seiner Frau joggen geht. «Ich fühlte mich, als sei alle Energie aus mir gewichen, total geschwächt. Ausserdem plagten mich Schmerzen in der linken Schulter.» Um einen schwelenden Verdacht zu zerstreuen, es könne etwas mit dem Herzmuskel zu tun haben, geht er zum Arzt. Trotz umfassender Untersuchungen kann dieser nichts feststellen.
Raphael erholt sich nicht. Im Gegenteil: Ihm geht es immer schlechter. So schlecht, dass er sich am Montag vor Ostern auf den Notfall des Universitätsspitals Basel begibt. Nach einem EKG, einer Blutabnahme und quälender Wartezeit kommt eine Oberärztin zu ihm und teilt ihm mit, dass sein Blutbild gar nicht gut sei, er an einer ernsthaften Bluterkrankung leide und am besten gleich im Spital bliebe. «Das war natürlich ein Schock», erinnert sich Raphael, «damit haben wir absolut nicht gerechnet. Uns zog es buchstäblich den Boden unter den Füssen weg, so abgedroschen das auch klingen mag, aber damals fühlte es sich einfach nur surreal an.»
Es braucht eine Blutstammzellspende
Raphael bleibt im Unispital. Völlig unvorbereitet in diese neue Realität hineinkatapultiert. Seine Familie bringt ihm Kleider, dann müssen sie wieder gehen; Corona-Vorsichtsmassnahmen.
Nach der Knochenmarkpunktion am nächsten Tag stand die Diagnose fest: Myelodysplastisches Syndrom (MDS), ein Blutkrebs, der eine Vorform einer Akuten Myeloischen Leukämie (AML) darstellt.
Die Ärzte stellen gleich zu Beginn der Behandlung klar, dass es ohne eine Blutstammzelltransplantation keine Heilung geben wird. «Dieses Gefühl, abhängig und ausgeliefert zu sein, war besonders schlimm», erinnert sich Raphael, der in seinem Leben sonst immer alles in der eigenen Hand hatte. Jetzt droht ihm alles zu entgleiten. «Da habe ich mir richtig Sorgen gemacht. Wir wussten: Es braucht einen Spender oder eine Spenderin, sonst ist es vorbei.»
Das beste Geburtstagsgeschenk
Während weltweit nach passenden Spenderinnen und Spendern gesucht wird, werden Raphael zwei Zyklen Chemotherapien verabreicht, die den Blutkrebs temporär unterdrücken, ihn aber auch sehr schwächen. Im Spital hält sich der Bewegungsmensch fit, so gut es geht, hat Zeit zum Nachdenken und spricht mit seiner Frau auch über den Tod.
Dann, im Sommer 2022, erreicht Raphaels Familie die Nachricht, dass ein passender Spender gefunden worden sei. «Die Erleichterung war riesig. Ich hatte das Gefühl, dass mir endlich jemand einen Rettungsring zuwirft und mich aus einem reissenden Fluss zieht.» Für die Vorbereitung auf die Spende, die sogenannte Konditionierung, muss Raphael wieder ins Spital eintreten. Durch eine aggressive Chemotherapie wird quasi sein Knochenmark ausgelöscht, damit es Platz hat für die Spenderzellen.
Wie es der Zufall will, spendet Raphaels anonymer Spender genau an Raphaels 48. Geburtstag seine Blutstammzellen. Die Transplantation findet einen Tag später statt. «Das beste Geburtstagsgeschenk, das ich mir hätte wünschen können», lächelt Raphael.
Der Kampf zurück ins Leben
Auf die Transplantation folgen 30 Tage Isolation. Das heruntergefahrene Immunsystem darf in dieser heiklen Phase keinem Infektherd ausgesetzt werden. Heruntergefahren ist auch Raphaels ganzer Körper: «So etwas habe ich noch nie erlebt. Das war viel heftiger als die Chemotherapien im Frühling. Ich bin vier Tage nur im Spitalbett gelegen, sogar Sonnenlicht war mir zu viel.» Duschen und Toilettengänge sind ein einziger Kraftakt und seine ganze Tagesleistung. Trotz offener Schleimhäute geht es ihm jeden Tag ein winziges Stückchen besser. Er kann sogar auf seiner mitgebrachten Velorolle erste vorsichtige Trainingsversuche wagen.
Ende Oktober wird Raphael aus dem Spital entlassen und darf zu seiner Familie nach Hause. Es beginnt ein langsamer Weg der Genesung. Zunächst sind es nur wenige Schritte, ein Spaziergang bis zum nächsten Häuserblock-. Hört Raphael ein Musikstück, das ihn an die Zeit im Isolierzimmer erinnert oder riecht er ein typisches Spital-Menü, kommt alles wieder hoch, so präsent ist diese Zeit noch.
«Papi sein wie früher»
Als in einer Nachuntersuchung festgestellt wird, dass Raphael die Blutstammzelltransplantation gut überstanden hat und keine Abstossungsreaktionen aufgetreten sind, weiss er: «Jetzt bin ich wieder in Charge. Jetzt kann ich wieder der Papi sein wie früher.» Auch das sportliche Training nimmt er, in Absprache mit dem Ärzteteam, nach und nach wieder auf. Krafttraining, Velofahren auf der Rolle, Spazieren, erste Joggingversuche im Februar. «Ich musste sportlich wieder bei null anfangen», berichtet Raphael, «aber die Fortschritte haben mich motiviert.»
Raphael geht es immer besser. Er darf die Immunsuppressiva absetzen, fängt wieder an zu arbeiten und mehr Sport zu treiben. So viel Sport, dass ihm die Teilnahme am Marathon in Luzern Ende Oktober realistisch erscheint. «Jetzt hatte ich ein Ziel. Einen symbolischen Abschluss, der die Rückkehr in ein normales Leben markiert.»
Eine spezielle Verbindung
Im Spätsommer dieses Jahres trainiert Raphael auf das sportliche Ereignis, feiert seinen 49. Geburtstag und einen Tag später seinen deutlich emotionaleren 1. Geburtstag mit den neuen Blutstammzellen. Er denkt an seinen Spender, verspürt unglaubliche Dankbarkeit ihm gegenüber, aber auch für die Solidarität aller registrierten Menschen und die Arbeit der Organisationen, die die internationale und komplexe Koordination zwischen Spendenden und Patientinnen und Patienten möglich machen. Obwohl er nur das Geschlecht, das Heimatland und das Alter seines anonymen Spenders kennt, spürt Raphael eine spezielle Verbindung zu ihm und hat ihm auch einen Brief geschickt (ein einmaliger anonymer Briefwechsel über Blutspende SRK Schweiz ist zwischen spendender und empfangender Person möglich).
Zum Geburtstag bekommt er von seiner Frau eine E-Gitarre. «Ich habe immer gesagt, dass ich mit der Musik anfange, wenn ich mal pensioniert bin und Zeit habe», lacht Raphael, «die Krankheit hat mir gezeigt, dass man gewisse Dinge nicht aufschieben sollte.»
Triumph über den Blutkrebs
Bis zum Schluss wusste Raphael nicht, ob er den Marathon tatsächlich schaffen wird. Doch nur ein Jahr nach seiner Blutstammzelltransplantation lief der 48-Jährige am 29. Oktober 2023 nach 3 Stunden und 25 Minuten in Luzern über die Ziellinie. Ein emotionaler Moment für den Familienvater, seine Frau und seine Söhne, seine Kollegen und Freunde, die ihn während der gesamten Krankheits- und Genesungszeit bedingungslos unterstützt haben.
Eine Blutstammzellspende ist keine 100-prozentige Garantie auf Heilung. Raphaels Geschichte zeigt jedoch, dass mit etwas Glück, Optimismus und Support die Rückkehr in ein normales Leben möglich ist.